AJ und die Geschichte des begrabenen Archäologen
Ich bin nun schon seit einer Weile in Neuseeland. Nach einiger Zeit des Reisens und Erkundens wurde es Zeit, die Kasse etwas aufzubessern. So wurde das Thema „work“, welches offensichtlich zu dem Konzept von „work and travel“ gehört, in Angriff genommen.
Der Arbeitsmarkt in Neuseeland kommt den Backpackern sehr entgegen. Es gibt viele Websites, auf welchen diverse saisonale Jobs angeboten werden. Für viele Neuseeländer selbst kommen diese
Saisonarbeiten jedoch nicht in Betracht, da die Bezahlung nicht sehr gut ist und es allgemein auch angenehmere Wege gibt, sein Geld zu verdienen.
Daher gibt es relativ viele Arbeitgeber, die nach fleißigen Arbeitern Ausschau halten.
Colin und Eva ( das Paar, das ich bereits in meinen vorherigen Artikeln erwähnt habe) trafen einen Arbeitgeber, der ihnen einen Job auf der weltweit größten Kiwi- Plantage anbot. Die beiden waren so nett und holten mich mit ins Boot.
Auf dieser Plantage sind logischerweise relativ viele Menschen angestellt. Dies hatte den Vorteil, dass ich viele neue Bekanntschaften schließen und einen weiteren Aspekt der Jobbörse in Neuseeland kennenlernen konnte.
Arbeitnehmer von saisonalen Jobs sind nicht nur Backpacker, sondern auch eine Vielzahl von vorbestrafter Maoris. Maoris, die Gangs angehören und schon diverse Male im Gefängnis saßen.
Sie übernehmen diese Jobs, da sie mit ihrer Vorgeschichte nirgendwo anders angestellt werden. So arbeiten sie für den Mindestlohn und unter teilweise widrigen Bedingungen.
Auch wenn sich der Fakt, mit vorbestraften Gangmitgliedern zu arbeiten, vielleicht unschön oder gar bedrohlich anhört, so muss ich jedoch unterstreichen, dass diese Maoris äußerst nett und gutherzig waren.
Arbeitet man zehn Stunden pro Tag an sechs Tagen in der Woche gemeinsam auf einer Plantage, während die Sommersonne Neuseelands erbarmungslos vom Himmel scheint, entsteht „etwas“ zwischen den Arbeitern.
Es entsteht eine Art Gemeinschaftsgefühl.
Dieses Gefühl ist schwer in Worte zu fassen. Man könnte sagen, jeder Einzelne weiß, dass alle in der gleichen Situation sind. Eine Art „Wenn die Arbeit schon so unschön ist, dann lasst uns mindestens alle an einem Strang ziehen und uns den Alltag gegenseitig verschönern“-Gefühl.
Insbesondere Derren, TIm und AJ lebten dieses Gefühl. Sie begrüßten uns am ersten Tag bereits herzlich und „bespaßten“ die gesamte Crew. Tim führte uns nach ein paar Tagen einen „Haka“, einen maorischen Kriegstanz, vor. Ein sehr beeindruckendes Erlebnis, das ich so schnell gewiss nicht vergessen werde.
Diese drei Jungs begegneten mir mit einer herzlichen Art, die ich in Deutschland nur selten zu Gesicht bekommen habe. Obwohl sie selbst so wenig haben, teilten sie mit mir ihr Essen und Trinken.
Stets unter dem Motto „Sharing is caring“ wurde alles brüderlich geteilt und zusammen vertilgt.
Während dieser Zeit führten Derren, Aj und ich viele tiefgründige Gespräche.
Derren ist 32 Jahre alt und hat fünf Kinder.
Als wir uns eines Tages über Gott und die Welt unterhielten, fragte er mich, in welche Länder ich schon gereist sei. Ich musste etwas überlegen.
Ich zählte ihm einige Länder auf und erzählte ihm ein paar Anekdoten zu den jeweiligen Ländern.
Er schaute mich ungläubig an. „Man, you´re 19 and travelled to this many countries?!”
Ich wunderte mich zunächst über seine Aussage. Als ich die Länder aufzählte kam es mir nicht so vor, als wäre ich überdurchschnittlich viel gereist.
Er erzählte mir jedoch, dass er sein ganzes Leben in Neuseeland verbracht hat und es für ihn nie möglich war, eine Reise in ein anderes Land anzutreten.
Das traf mich und regte zum Nachdenken an. Noch nie wurde mir so oft vor Augen geführt, wie gut es mir und allgemein auch den meisten Menschen in Deutschland eigentlich geht. In solchen Momenten lässt man sein Leben kurz Revue passieren und weiß alles noch mehr zu schätzen.
Wir führten die Unterhaltung fort.
Er fragte mich nun über meine zukünftigen Reiseziele aus. Ich berichtete ihm mit viel Leidenschaft und Vorfreude, welche Länder ich in den nächsten Jahren noch bereisen möchte.
Erneut schaute er mich ungläubig an und fragte nach meinen Motiven. Er fragte, warum ich all diese Länder und Kulturen sehen wolle. Ich dachte kurz nach:
„Bro, I can´t explain it. I just have to do. I´m driven by passion. For me, it´s just so interesting to discover different and new cultures. To meet new people with different backgrounds”.
Er schaute mich längere Zeit an und dachte nach.
Die Zeit stand kurz still und ich versuchte seinen Blick zu lesen.
In seinen Augen lag Traurigkeit. Ich nahm dies an, da Derren mir bereits seine Lebensgeschichte erzählt hatte und mir diese nun in den Sinn kam. Er war bereits im Gefängnis gewesen und hatte eine schwere Jugend. Gangs und Gewalt waren Alltag und er hatte besseres zu tun, als sich mit Reisen in verschiedene Länder zu beschäftigen… nämlich zu überleben.
Diese Welt ist mir, um ehrlich zu sein, stets fremd gewesen.
Ich wuchs gut behütet in Deutschland auf.
Meine Sorgen lagen darin, den Eismann nicht zu verpassen oder den Fußball wieder unter ein Auto geschossen zu haben und unter dieses klettern zu müssen.
Dieser Kontrast schockte und bedrückte mich. Ich wusste natürlich, dass es viel Armut und Probleme in der Welt gibt. In Deutschland gibt es davon teilweise auch genug. Jedoch vor einem Mann zu stehen, welcher von so schrecklichen Zuständen berichtet, intensiviert alles noch einmal.
Ich glaubte in diesem Moment, in welchem unsere Augen sich trafen, eben diese Traurigkeit auch bei Derren vernommen zu haben.
Er war der Erste, der die Stille durchbrach. Er wiederholte nachdenklich meine Worte.
„Driven by passion… That´s wonderful my bro. To be honest, most of the time I´m driven by fear.”
Diese Aussage bestätigte meine Gedankengänge und stimmte mich noch nachdenklicher.
Ich fühlte mit ihm und versuchte mir sein Leben, anhand seiner Aussagen, vorzustellen.
Er tat mir unendlich leid.
Der Gedanke, auf dieser Farm für vier Wochen zu arbeiten und dann erneut aus dem Lebenskonstrukt des „Kiwi- Plantagenarbeiters“ auszubrechen und weiter zu reisen, führte mir vor Augen, wie frei
ich bin. Ich kann nach kurzer Zeit gehen, meine Reise beenden, dank meiner erlangten Bildung und des Abiturs studieren und später, hoffentlich, einen guten Beruf ausüben.
Derren kann all dies nicht. Er hängt fest in diesem Konstrukt, aus welchem man kaum noch ausbrechen kann. Es ist ein Teufelskreis. Wir führten unser Gespräch danach noch einige Stunden
fort.
Wir sprachen über Religion, Gott und seinem Wunsch, seinen Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
Einmal nahm Derren seinen elfjährigen Sohn mit zur Arbeit und zeigt ihm, wie sein Vater Geld verdient. Ich denke, dies tat er um ihm zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, dass er sich
weiterbildet und später etwas Besseres machen kann.
AJ´s Geschichte knüpft an den eben beschrieben Teufelskreis an. Nun möchte ich diesen aber erst kurz vorstellen.
AJ war der erste Maori, der zu Beginn direkt auf mich zukam.
„Guten Tag“ sagte er stolz.
Ich staunte nicht schlecht. Das Letzte, was ich mir vorgestellt hatte, als ich AJ zuerst sah, war, in fast perfektem Deutsch von ihm begrüßt zu werden. Diese erste Begegnung weckte eine gewisse
Sympathie ihm gegenüber und zeigte mir auch, wie clever er ist. Er schnappt überall fremde Wörter auf, informiert sich über deren Bedeutung und adaptiert diese.
Unsere Aufgabe auf der Kiwi -Plantage liegt darin, die Kiwi Pflanzen entweder einzupflanzen, oder bereits eingepflanzte Pflanzen zu „trainieren“. Man arbeitet dabei stets in unendlich langen Reihen nebeneinander, was einem die Möglichkeit eröffnet, sich lange zu unterhalten.
Ich tat dies also auch mit AJ.
Langsam aber sicher eröffnete er mir sein Lebensbild.
Er ist 26 Jahre alt, hat drei Kinder und kommt frisch aus dem Gefängnis. Er saß sechs Monate wegen eines Einbruchs. Später erfuhr ich, dass er diesen gar nicht begangen hatte. Seine Schwester tat dies, worauf eine Hausdurchsuchung bei ihm Zuhause stattfand. Er nahm die Schuld auf sich, um seine Schwester zu schützen. (Bei aller Romantik, weiß ich natürlich nicht, wie wahr die Geschichte wirklich ist. Die meisten Verbrecher sind ja „unschuldig“. Trotzdem kam mir AJ die ganze Zeit über, wie ein ehrlicher, gutherziger Mensch vor.)
Die Unterhaltung drehte sich auch um den bereits erwähnten, Teufelskreis. Er erzählte mir ehrlich und auch kritisch, wie faul viele Maoris seien. Die Bevölkerung rauche und trinke zu viel,
verrenne sich in ihren Gangs und Ghettos und vernachlässige die Bildung.
Ich fragte ihn, ob er sich weiterbilden wolle. Viele Maoris werden zu jung unverhofft Vater und müssen die Schule abbrechen um ihre junge Familie zu versorgen. Viele haben auch keine Lust auf die
Schule und verlassen diese zu früh.
Er erklärte mir, dass er selbst ungeplant Vater geworden ist. Er hat drei Kinder und versucht momentan diese zu versorgen.
Oft berichtete er mir tieftraurig, dass seine Frau ihn betrüge, er sie aber nicht verlassen könne, da er sie zu sehr liebt. Er sprach darüber, wie unglücklich er sei und dass er seine Situation
ändern wolle.
An solchen Tagen lieh ich ihm oft mein Handy und meine Kopfhörer. Er liebte Musik und war direkt etwas besser gelaunt, wenn er diese auf der Arbeit hören konnte.
Eines Tages fragte mich Aj, ebenso wie Derren davor, welche Länder ich schon gesehen habe.
Ich zählte ihm also wieder ein paar Länder auf. Als ich Ägypten erwähnte, unterbrach er mich plötzlich. Man merkte deutlich, wie angetan er von diesem Land war.
Er fragte mich eine Stunde lang über alles aus, was ich dort erlebt hatte. Er wollte alles wissen und sog förmlich alles auf.
Ich fragte ihn überrascht, warum er sich gerade für Ägypten so interessiere.
Er erklärte mir, dass er als Kind immer Archäologe werden wollte. Das war sein absoluter Traum und er plante, nach Ägypten zu reisen und sich dort an Ausgrabungen zu beteiligen. Die Pyramiden faszinierten ihn. Die Bauart und die unglaubliche logistische und menschliche Leistung, die in diesen frühen Jahren aufgebracht wurde, um solche riesigen Bauwerke zu schaffen beeindruckte ihn schon seit er sehr jung war.
Während er so ins Schwärmen geriet, merkte ich, dass er zum ersten Mal wirklich glücklich und leidenschaftlich über ein Thema sprach.
Er erzählte mir, dass er Geld sparen wolle und irgendwann selber nach Ägypten fliegen möchte.
Dies hätte seine Berufung werden können. AJ hat, wie bereits erwähnt, eine gewisse Begabung. Er kann neue Wörter schnell lernen und sie in sein Vokabular aufnehmen.
In einem anderen Leben hätte er vielleicht die Schule beendet und etwas in die Richtung Archäologie studiert. Sicherlich hätte er keine Probleme gehabt, die ägyptischen Hieroglyphen zu lernen und wäre nach einiger Zeit nach Ägypten geflogen. Er hätte sich einer Ausgrabung angeschlossen und wäre jeden Tag aufgestanden, getrieben von der Leidenschaft etwas Neues aus der Kultur der alten Ägypter und Pharaonen zu entdecken.
Doch das ist alles Konjunktiv.
Die Realität sieht anders aus.
In unserer gemeinsamen Zeit, gerade als diese dem Ende zuging, sprach er viel über unseren Abschied. Wie traurig er sei, dass ich weiter reise und dass wir eine spezielle Freundschaft aufgebaut
hätten. Ich stimmte ihm zu. Er versprach mir einige“ Hangi -Gerichte“ (Hangi ist eine traditionelle Art des Kochens; die Maoris garen Gerichte mit Hilfe von heißen Steinen im Boden) zum Abschied
mit zu nehmen und ein kleines Festessen auf die Beine zu stellen.
Jedoch erschien er zwei Tage vor unserer Abreise nicht mehr. Auch am letzten Arbeitstag blieb er der Kiwi-Plantage fern. Derren erzählte mir, seine Frau habe ihn verlassen und sei mit seinen
Kindern fort gegangen. Er suche nun nach einem neuen Platz zum Leben.
Ich war traurig, dass ich mich nicht mehr richtig von meinem Freund verabschieden konnte.
Zwei Tage nachdem ich die Plantage verlassen hatte erfuhr ich, dass AJ wieder festgenommen worden war.
Ich weiß nicht weshalb und wie lange, jedoch ist er nun wieder im Gefängnis.
Ein Nachwort:
Diese Episode meiner Reise hat mir gezeigt, wie wichtig Bildung ist.
Jeder kennt diesen Satz von seinen Eltern und Lehrern: „Bildung ist das Wichtigste. Bildung ist ein Privileg.“
Viele Jugendliche können es bestimmt auch nicht mehr hören und verstehen nicht, wofür man das alles machen muss.
Früh aufstehen. Zur Schule gehen. Acht Stunden teilweise langweiligen Unterrichtsstoff eingeprügelt bekommen. Stress wegen Klausuren.
Wenn man aber AJ´s Fall betrachtet, versteht man diese Floskeln und deren Relevanz etwas besser.
Ein junger Mann, der offensichtlich Interessen und Talente hat, die aber nie gefördert wurden, verliert alles und wird nie ein gutes Leben führen können.
Mit seinen 26 Jahren sitzt er nun zum zweiten Mal im Gefängnis.
Er wird mit seinem Vorstrafenregister nie einen besseren Job ausüben können. Es wird immer irgendein Hilfsjob sein, ohne Möglichkeit sich weiterzuentwickeln.
Ein vielversprechendes Leben, komplett verschwendet und zerstört.
Das alles nur, weil man in einem Umfeld aufwächst, in welchem Bildung nicht erstrangig ist und vielleicht auch gar nicht sein kann. Durch die finanzielle und soziale Lage wird es diesen Maoris viel schwerer gemacht einen guten Bildungsstand zu erreichen. Teilweise wird auch einfach nicht verstanden, wie wichtig diese Bildung für ihre Zukunft wäre.
Dies lässt sich aber ohne Probleme auf alle weiteren Gesellschaften übertragen. Egal, ob du Deutscher, Franzose, Amerikaner oder Maori bist: Bildung ist der Schlüssel zur Welt.
Für Menschen aus den unteren, ärmeren Schichten ist es jedoch viel schwerer eine gute Bildung zu erhalten.
Somit können viele diesem Teufelskreis nicht entkommen.
Wenn du also gerade vielleicht kurz davor stehst,dein Abi zu machen oder wichtige Klausuren im Studium vor der Brust hast und dich fragst, warum du all den Stress eigentlich auf dich nimmst:
Denk an AJ.
Vielleicht hilft dies, neue Motivation zu finden.
See you soon,
Florian.
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Philip Hiby (Mittwoch, 07 März 2018 08:53)
Jo Flo,
krasser Bericht der einen mal merken lässt wie gut man es hat.
Viel Spaß und Kraft weiterhin bro :)